Antisemitische Narrative begegnen im Alltag in zunehmender Häufigkeit. Nicht immer sind sie jedoch ohne (in der Regel historisches) Hintergrundwissen auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Sie werden somit vielfach übersehen bzw. überhört oder gar unbeabsichtigt reproduziert. Diese Beitragsreihe bietet deshalb einen Überblick über am stärksten verbreitete antisemitische Narrative der Gegenwart und erläutert deren Hintergründe bzw. ihre jeweilige historische Grundlage. Zunächst gehe ich dabei in diesem Artikel auf die gängigsten Erscheinungsformen ein.
Stigmatisierung als fremd und andersartig durch antisemitische Narrative
Das wohl bekannteste antisemitische Narrativ ist zunächst das allgemeine vom fremdartig aussehenden, raffgierigen, reichen jüdischen Händler. Es zeigt sich in der klischeehaften Darstellung des sogenannten Happy Merchant mit großer Nase, gierigem Blick, edlem Anzug, Schläfenlocken, mitunter einer Hornbrille und sich die Hände reibend. Den historischen Hintergrund dieser Karikatur des raffgierigen Händlers bildet wohl die vielfache Tätigkeit jüdischer Menschen im Handelssektor während des Mittelalters sowie deren im Verlauf dieser Epoche wachsende Abdrängung in Kleingewerbe und Geldverleih (letzterer brachte ihnen den Hass der Schuldner und die Zuschreibung als Wucherer ein). Das insbesondere im Internet in vielfacher Form kursierende, hochgradig antisemitische Bild basiert auf der stereotypen Annahme eines typisch jüdischen Aussehens bzw. der Erkennbarkeit jüdischer Menschen durch äußere Merkmale. Derart klischeehafte Darstellungen finden sich bereits auf Münzen aus dem 17. Jahrhundert sowie in Karikaturen der NS-Zeit.
Typische Narrative des Post-Shoah-Antisemitismus
Tier-KZ – Babycaust – Ungeimpft-Stern
Eine Tierschutzorganisation bezeichnet die Massentötung von Tieren auf Pelztierfarmen oder Schlachthöfen als Tier-KZ. Eine Anti-Abtreibungs-Initiative verwendet für die Vorgänge in einer Abtreibungen durchführenden Klinik den Begriff Babycaust. Und auf Corona-Demonstrationen tragen impfunwillige Personen einen Stern mit der Aufschrift ‚Ungeimpft‘. Auch bei all diesen Ereignissen handelt es sich um antisemitische Narrative. Und sie alle haben eines gemein: Sie relativieren die Shoah. Denn die Massentötung von Tieren oder die Abtreibung ungeborener Kinder wird auf diese Weise mit der Massenvernichtung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischen Menschen gleichgesetzt. Und der Ungeimpft-Stern wurde bewusst dem gelben Stern zur diskriminierenden Kennzeichnung jüdischer Menschen in der NS-Zeit nachempfunden. Damit wollten nicht geimpfte Menschen während der Covid-19-Pandemie zum Ausdruck bringen, sie würden nun ebenso unterdrückt wie die jüdisch-deutsche Bevölkerung im NS-Staat.
Schlussstrich – Auschwitzkeule – Schuldkult
Antisemitische Narrative zur Erinnerungs- und Schuldabwehr begegnen von der frühen Nachkriegszeit bis heute in zunehmender Häufigkeit. Bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs kamen erstmals Forderungen nach dem Ziehen eines Schlussstrichs unter die Verbrechen der NS-Vergangenheit auf. Seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung häuften sie sich und werden auch heute immer lauter. In diesem Kontext wird häufig unter Berufung auf den Schriftsteller Martin Walser von der Auschwitzkeule gesprochen. Mittels selbiger mache man ‚den Deutschen‘ immer wieder ihre NS-Vergangenheit zum Vorwurf.
Das hatte Walser 1998 zwar tatsächlich kritisiert, es jedoch wenigstens nicht ganz so plakativ formuliert, wenn er davon sprach, Auschwitz laufe Gefahr, zur Moralkeule zu werden. Soviel sei zu seinen Gunsten gesagt. Dennoch hat er definitiv den Weg bereitet für die plakative Weiterentwicklung seines ohnehin bereits problematischen Ausspruchs in eindeutig antisemitische Narrative. Nicht selten gipfeln diese in der perfiden Behauptung, jüdische Menschen betrieben durch das Aufrechterhalten der Erinnerung an den Holocaust gar eine Art gegen ‚die Deutschen‘ gerichteten Schuldkult, von dem sie selbst profitierten.
Gegen typische antisemitische Narrative argumentieren
Stereotype Annahmen gibt es nicht nur über jüdische Menschen, sondern auch über andere Bevölkerungsgruppen, u. a. über ‚die Deutschen‘. Nicht jeder deutsche Mensch isst beispielsweise am liebsten Kartoffeln, ist blond und blauäugig und liebt die Bürokratie, um nur einige Aspekte des Klischees zu nennen. Dies verdeutlicht: stereotype Annahmen bilden niemals die Realität ab, denn sie treffen niemals auf alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe zu.
Die Absurdität des Vergleichs massenhafter Tiertötungen (Tier-KZ) oder der Abtreibung ungeborener Kinder (Babycaust) mit der Massenvernichtung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischer Menschen ist für logisch Denkende unübersehbar – so diskussionswürdig Tierschutz und der Schutz ungeborenen Lebens sein mögen. Und in Anbetracht des schrecklichen Schicksals eines großen Teils der jüdisch-deutschen Bevölkerung des NS-Staats war es ebenso absurd von Teilen der Impfgegnerschaft, durch den Ungeimpft-Stern vermitteln zu wollen, man werde nun in vergleichbarer Härte unterdrückt, da ihnen während der Pandemie nie auch nur ansatzweise Vergleichbares seitens des deutschen Staates drohte.
Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit und der Vorwurf des Schuldkults bzw. der sog. Auschwitzkeule schließlich werden vielfach aus einem defensiven Reflex der Schuldabwehr erhoben. Diese ist jedoch vollkommen unnötig. Denn den heutigen Generationen der nach der NS-Zeit Geborenen soll natürlich keine persönliche Schuld an NS-Verbrechen im Sinne von ’sich schuldig machen‘ unterstellt werden. Vielmehr ist hier mit ‚Schuld‘ die Verantwortung gemeint, aus der Geschichte der eigenen Vorfahren für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Und in diesem Kontext kann dann der Begriff ‚Auschwitz‘ sinnbildlich für den Holocaust und die gesamten Verbrechen der NS-Zeit stehen. Es geht somit bei der Schuldigkeit nach der NS-Zeit geborener Generationen darum, um es mit Adorno zu sagen, sich dafür (mit-)verantwortlich zu fühlen,
Quellen & Weiterführendes
- Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959–1969. Hrsg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. 1970, S. 92–109, hier S. 92.
- Hilfen zur Argumentation gegen Antisemitismus im Netz bei der Amadeu Antonio Stiftung
- Hilfen zum Erkennen antisemitischer Narrative bei der Amadeu Antonio Stiftung
- Antisemitismus in der europäischen Kultur – Geschichte und Gegenwart