Antisemitische Narrative begegnen im Alltag in zunehmender Häufigkeit. Nicht immer sind sie jedoch ohne (in der Regel historisches) Hintergrundwissen auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Sie werden somit vielfach übersehen bzw. überhört oder gar unbeabsichtigt reproduziert. Diese Beitragsreihe bietet deshalb einen Überblick über am stärksten verbreitete antisemitische Narrative der Gegenwart und erläutert deren Hintergründe bzw. ihre jeweilige historische Grundlage. Zunächst gehe ich dabei in diesem Artikel auf die gängigsten Erscheinungsformen ein.
Stigmatisierung als fremd und andersartig durch antisemitische Narrative
Das wohl bekannteste antisemitische Narrativ ist zunächst das allgemeine vom fremdartig aussehenden, raffgierigen, reichen jüdischen Händler. Es zeigt sich in der klischeehaften Darstellung des sogenannten Happy Merchant mit großer Nase, gierigem Blick, edlem Anzug, Schläfenlocken, mitunter einer Hornbrille und sich die Hände reibend. Den historischen Hintergrund dieser Karikatur des raffgierigen Händlers bildet wohl die vielfache Tätigkeit jüdischer Menschen im Handelssektor während des Mittelalters sowie deren im Verlauf dieser Epoche wachsende Abdrängung in Kleingewerbe und Geldverleih (letzterer brachte ihnen den Hass der Schuldner und die Zuschreibung als Wucherer ein). Das insbesondere im Internet in vielfacher Form kursierende, hochgradig antisemitische Bild basiert auf der stereotypen Annahme eines typisch jüdischen Aussehens bzw. der Erkennbarkeit jüdischer Menschen durch äußere Merkmale. Derart klischeehafte Darstellungen finden sich bereits auf Münzen aus dem 17. Jahrhundert sowie in Karikaturen der NS-Zeit.
Typische Narrative des Post-Shoah-Antisemitismus
Tier-KZ – Babycaust – Ungeimpft-Stern
Eine Tierschutzorganisation bezeichnet die Massentötung von Tieren auf Pelztierfarmen oder Schlachthöfen als Tier-KZ. Eine Anti-Abtreibungs-Initiative verwendet für die Vorgänge in einer Abtreibungen durchführenden Klinik den Begriff Babycaust. Und auf Corona-Demonstrationen tragen impfunwillige Personen einen Stern mit der Aufschrift ‚Ungeimpft‘. Auch bei all diesen Ereignissen handelt es sich um antisemitische Narrative. Und sie alle haben eines gemein: Sie relativieren die Shoah. Denn die Massentötung von Tieren oder die Abtreibung ungeborener Kinder wird auf diese Weise mit der Massenvernichtung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischen Menschen gleichgesetzt. Und der Ungeimpft-Stern wurde bewusst dem gelben Stern zur diskriminierenden Kennzeichnung jüdischer Menschen in der NS-Zeit nachempfunden. Damit wollten nicht geimpfte Menschen während der Covid-19-Pandemie zum Ausdruck bringen, sie würden nun ebenso unterdrückt wie die jüdisch-deutsche Bevölkerung im NS-Staat.
Schlussstrich – Auschwitzkeule – Schuldkult
Antisemitische Narrative zur Erinnerungs- und Schuldabwehr begegnen von der frühen Nachkriegszeit bis heute in zunehmender Häufigkeit. Bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs kamen erstmals Forderungen nach dem Ziehen eines Schlussstrichs unter die Verbrechen der NS-Vergangenheit auf. Seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung häuften sie sich und werden auch heute immer lauter. In diesem Kontext wird häufig unter Berufung auf den Schriftsteller Martin Walser von der Auschwitzkeule gesprochen. Mittels selbiger mache man ‚den Deutschen‘ immer wieder ihre NS-Vergangenheit zum Vorwurf.
Das hatte Walser 1998 zwar tatsächlich kritisiert, es jedoch wenigstens nicht ganz so plakativ formuliert, wenn er davon sprach, Auschwitz laufe Gefahr, zur Moralkeule zu werden. Soviel sei zu seinen Gunsten gesagt. Dennoch hat er definitiv den Weg bereitet für die plakative Weiterentwicklung seines ohnehin bereits problematischen Ausspruchs in eindeutig antisemitische Narrative. Nicht selten gipfeln diese in der perfiden Behauptung, jüdische Menschen betrieben durch das Aufrechterhalten der Erinnerung an den Holocaust gar eine Art gegen ‚die Deutschen‘ gerichteten Schuldkult, von dem sie selbst profitierten.
Gegen typische antisemitische Narrative argumentieren
Stereotype Annahmen gibt es nicht nur über jüdische Menschen, sondern auch über andere Bevölkerungsgruppen, u. a. über ‚die Deutschen‘. Nicht jeder deutsche Mensch isst beispielsweise am liebsten Kartoffeln, ist blond und blauäugig und liebt die Bürokratie, um nur einige Aspekte des Klischees zu nennen. Dies verdeutlicht: stereotype Annahmen bilden niemals die Realität ab, denn sie treffen niemals auf alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe zu.
Die Absurdität des Vergleichs massenhafter Tiertötungen (Tier-KZ) oder der Abtreibung ungeborener Kinder (Babycaust) mit der Massenvernichtung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischer Menschen ist für logisch Denkende unübersehbar – so diskussionswürdig Tierschutz und der Schutz ungeborenen Lebens sein mögen. Und in Anbetracht des schrecklichen Schicksals eines großen Teils der jüdisch-deutschen Bevölkerung des NS-Staats war es ebenso absurd von Teilen der Impfgegnerschaft, durch den Ungeimpft-Stern vermitteln zu wollen, man werde nun in vergleichbarer Härte unterdrückt, da ihnen während der Pandemie nie auch nur ansatzweise Vergleichbares seitens des deutschen Staates drohte.
Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit und der Vorwurf des Schuldkults bzw. der sog. Auschwitzkeule schließlich werden vielfach aus einem defensiven Reflex der Schuldabwehr erhoben. Diese ist jedoch vollkommen unnötig. Denn den heutigen Generationen der nach der NS-Zeit Geborenen soll natürlich keine persönliche Schuld an NS-Verbrechen im Sinne von ’sich schuldig machen‘ unterstellt werden. Vielmehr ist hier mit ‚Schuld‘ die Verantwortung gemeint, aus der Geschichte der eigenen Vorfahren für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Und in diesem Kontext kann dann der Begriff ‚Auschwitz‘ sinnbildlich für den Holocaust und die gesamten Verbrechen der NS-Zeit stehen. Es geht somit bei der Schuldigkeit nach der NS-Zeit geborener Generationen darum, um es mit Adorno zu sagen, sich dafür (mit-)verantwortlich zu fühlen,
Quellen & Weiterführendes
Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959–1969. Hrsg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. 1970, S. 92–109, hier S. 92.
Unterschiedliche Ausprägungen von Antisemitismus in sozialen Medien konnte man jüngst im Zusammenhang mit dem Fall eines mehr oder minder bekannten deutsch-jüdischen Musikers beispielsweise auf X (ehemals Twitter) und Facebook mal wieder massenhaft erleben. Einen kleinen Überblick zu besonders häufigen Erscheinungsformen möchte ich anhand dieses Beispiels einmal verdeutlichen. Ich beschränke die Analyse exemplarisch auf diese beiden Dienste, um den Artikelumfang einzugrenzen.
Aufhänger für Antisemitismus in sozialen Medien: Ein (!) Antisemitismus-Vorwurf…
Doch zunächst kurz zum Hintergrund. Der besagte 41-jährige Musiker hatte im Herbst 2021 den Manager eines Hotels in Leipzig wegen antisemitischen Verhaltens angezeigt. Der Fall hatte öffentlich für Aufsehen gesorgt und verbreitet hatten Menschen Zivilcourage gezeigt. Es hatte eine Vielzahl von Solidaritätsbekundungen mit dem Musiker einerseits, Ablehnung gegenüber dem Beschuldigten und seinem Arbeitgeber andererseits gegeben. Das Ermittlungsverfahren war jedoch letztlich eingestellt worden, da sich keine Beweise für die Schuld des Managers gefunden hatten. Stattdessen hatte man dann gegen den weiterhin auf seinen Vorwürfen bestehenden Musiker Anklage wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung erhoben.
… der sich als ungerechtfertigt erweist
Erst im Herbst 2023 (!) gestand der 41-Jährige innerhalb dieses Verfahrens schließlich vor Gericht, die vergangenen zwei Jahre lang (!) gelogen zu haben. Er bat den zu Unrecht Beschuldigten um Verzeihung. Der Prozess endete dann mit einem Vergleich. Der Musiker erhielt eine Geldauflage zugunsten der Leipziger jüdischen Gemeinde sowie des Trägervereins des Hauses der Wannseekonferenz, um den Schaden, den er mit seinem Handeln gegenüber allen tatsächlich von Antisemitismus Betroffenen angerichtet hat, zumindest ansatzweise wiedergutzumachen. Darüber hinaus muss er ein Schmerzensgeld an den in seinem Ansehen und seiner Psyche zutiefst geschädigten Hotelmanager zahlen.
Reaktion auf den ungerechtfertigten Vorwurf des Antisemitismus in sozialen Medien
Nach dem Geständnis ließ das Echo im Netz nicht lange auf sich warten. Dass es überwiegend negativ ausfällt, verwundert nicht und ist angesichts der schieren Unglaublichkeit dieses Betragens einer Person des öffentlichen Lebens (auch wenn es sich hier nicht unbedingt um einen Weltstar handelt) auch durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt. Niemand sollte sich derart egozentrisch und rücksichtslos verhalten, schon gar nicht, wenn man in der Öffentlichkeit steht und so davon ausgehen muss, eine Massenwirkung zu erzielen. Dies ist auch der Grund, weshalb ich seinen Namen nicht nenne, denn ich möchte ihm keine weitere Plattform bieten, sondern lediglich die durch ihn leider erneut verschärfte Antisemitismus-Problematik thematisieren.
Verurteilung des Fehlverhaltens
So schreibt der Zentralrat der Juden in Deutschland, der bis zum Bekanntwerden des Geständnisses natürlich entschieden auf der Seite des vermeintlichen Opfers von Antisemitismus gestanden hatte, auf X, der Musiker habe mit seiner Lüge
[…] all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt. Neben der Öffentlichkeit hat er auch die jüdische Gemeinschaft belogen. Wir haben in unserer Gesellschaft ein Antisemitismus-Problem, viele sind gerade in der jetzigen aufgeheizten gesellschaftlichen Situation verunsichert und erleben Judenhass und Ablehnung. Es ist richtig, bei einem Antisemitismusvorwurf auf der Seite des Betroffenen zu stehen, ihm beizustehen und die Antisemitismuserfahrung zunächst nicht in Frage zu stellen. Umgekehrt darf so ein Vorwurf niemals grundlos erhoben werden. Und das ist hier leider passiert. Wir verurteilen das Verhalten […].
Zentralrat der Juden in Deutschland auf X, 28.11.2023, 12:17 Uhr.
Und auch Posts von Privatpersonen zeigen deren Unverständnis für das Handeln des 41-Jährigen und auch ihre Wut darüber. So äußert beispielsweise ein User auf X ebenfalls – und in seiner Ausdrucksweise bereits deutlich plakativer als der Zentralrat – die Befürchtung, durch die sinnlose und ’saudumme‘ Lüge werde tatsächlichen Opfern von Antisemitismus wohl künftig noch weniger Verständnis entgegengebracht werden als bisher. Und auf Facebook macht z. B. eine Person ihrem Ärger Luft, indem sie nochmals die Unschuld der fälschlicherweise vom Musiker des Antisemitismus Beschuldigten betont und dann schreibt, diese falsche Anschuldigung sei eine Relativierung des Leidens tatsächlich Betroffener.
Beispiele für Formen von Antisemitismus in sozialen Medien
Diese Befürchtungen hinsichtlich der Konsequenzen des offenkundig und unbestreitbar moralisch verwerflichen sowie verantwortungslosen Verhaltens des betreffenden Musikers waren nicht unbegründet, wie sich sogleich zeigen sollte. Denn abgesehen von diesen negativen, wenn auch emotional, so doch überwiegend sachlich bleibenden Reaktionen findet sich in den diesbezüglichen Kommentaren auf X und Facebook auch eine erschreckende Vielzahl antisemitischer Agitationen unterschiedlicher Art.
Diffamierende Verallgemeinerung
Darunter finden sich insbesondere auf Facebook häufig verallgemeinernde beleidigende Äußerungen über jüdische Menschen. Einerseits gibt es z. B. Aussagen, die darauf verweisen, dass dieser jüdische Mensch gelogen habe, sei doch nicht erstaunlich, denn alle jüdischen Menschen seien von Natur aus Lügner. Entsprechend wird auch der allgemeine Verdacht geäußert, Antisemitismusvorwürfe seien bestimmt häufig ungerechtfertigt und würden dann durch die öffentlichen Medien hochgespielt. Noch einen Schritt weiter geht die Verallgemeinerung, wenn eine Person grundsätzlich alle Angehörigen von Minderheiten, die angeben, rassistisch diskrimiert worden zu sein, der Lüge bezichtigt und ihnen unterstellt, sie wollten damit stets lediglich Aufmerksamkeit generieren.
Glaube an jüdische Raffgier und zionistische Weltverschwörung
An die verallgemeinernden Diffamierungen anschließend zeigen auch viele Posts die Überzeugung von einer genuin jüdischen Veranlagung zur Raffgier sowie der Existenz einer zionistischen Weltverschwörung. In einer Vielzahl der Kommentare äußern die Verfassenden sich entrüstet, dass der jüdische Angeklagte seine Strafzahlung letztlich an eine jüdische Gemeinde leisten muss – so bleibe es ‚in der Familie‘, meint eine Person. Zionismus und Judentum werden bei Aussagen in dieser Art häufig (fälschlicherweise!) gleichgesetzt. Damit einher geht außerdem mitunter eine gänzlich undifferenzierte israelfeindliche Haltung, die auch Bezüge zu aktuellen Ereignissen enthält.
Relativierung & Täter-Opfer-Umkehr
So spekuliert eine Person z. B., wann sich Netanjahu wohl für den 7. Oktober entschuldigen werde, und verweist auf die angebliche Vorliebe der ‚Zionisten‘ für ‚Propaganda‘ und Lügen. Bei dieser Äußerung handelt es sich um eine aktualisierte Form relativierender Täter-Opfer-Umkehr. Einerseits wird das durch die palästinensische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel angerichtete Pogrom an der jüdischen Bevölkerung wird relativiert oder gar in Frage gestellt. Andererseits wird von Seiten der Opfer eine Entschuldigung (für die unmittelbare Reaktion auf das Pogrom oder für die angebliche Erfindung desselben?) erwartet?!
Daneben findet sich aber auch die altbekannte, klassisch auf die Shoah bezogene relativierende Täter-Opfer-Umkehr. User*innen werfen dem jüdischen Musiker vor, er habe sich den sogenannten ‚Schuldkult‘ zunutze gemacht. Damit habe er den Ruf des deutschen Volkes beschädigen oder durch die ‚Antisemitismuslügenkeule‘ (wohl eine Abwandlung der ‚Auschwitzkeule‘ Martin Walsers) eigene Vorteile erreichen wollen.
Ein User auf Facebook geht in seinem relativierenden Vergleich besonders weit und verliert dabei jegliche Logik aus dem Blick. Er schimpft, ebenso wie der jüdische Musiker im aktuellen Fall könnten die Deutschen die ‚Taten‘ der NS-Zeit (gemeint ist, wie der übrige Post erschließen lässt, die Ermordung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischen Menschen in der Shoah) gestehen. Dann könnten sie sich dafür entschuldigen und Zahlungen an die deutsche Bevölkerung leisten, denn schließlich habe Hitlers Politik das Ansehen des deutschen Volkes beschädigt. Dass dieser Vergleich nicht nur hinkt, sondern mindestens zwei gebrochene Beine hat, ist offensichtlich. Allein der frappierende Unterschied in der Größenordnung und Tragweite der beiden Ereignisse verbietet die Gegenüberstellung per se.
Schlussfolgerungen zum Antisemitismus in sozialen Medien
Die untersuchten antisemitischen Äußerungen weisen vielfach Übereinstimmungen in unterschiedlicher Hinsicht auf. Diese lassen meist auf den Hintergrund bzw. die zugrunde liegenden Überzeugungen der Verfassenden schließen.
Verschleiernde Schreibweisen
Besonders auffällig ist, dass bei antisemitischen Posts scheinbar vielfach auf eine Schreibung geachtet wird, die es Suchalgorithmen sicherlich erschwert, die jeweilige Aussage auch als antisemitisch zu erkennen und so möglicherweise als gegen Richtlinien verstoßende Hatespeech zu blockieren (z. B. ‚Lügen liegt denenim Blut‘, ‚lügender J.‚ oder ‚Typisch für israeli‘). Dies legt die Vermutung nahe, dass die Verfassenden derartiger Kommentare bereits über umfangreiche Erfahrung im Posten diffamierender Äußerungen haben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich aber, dass sich darauf erfreulicherweise auch nicht selten entschieden widersprechende Antworten anderer User*innen fanden.
Schlecht informiert
Vielfach zeigt sich, dass die antisemitisch argumentierenden Personen falsch oder schlecht informiert sind. So scheinen sich erstens die Wenigsten auch nur ein bisschen über den betreffenden Musiker informiert zu haben, den sie in ihren Kommentaren antisemitisch angreifen bzw. als Prototypen für jüdische Menschen nutzen. Bereits eine kurze Google-Suche ergibt : Es handelt sich um einen in München geborenen, nicht gläubigen, d. h. religiösen, sondern säkulären Juden. Zweitens ist auch Vielen nicht bekannt, dass die Begriffe ‚Israeli‘ und ‚Jude‘ nicht gleichbedeutend sind. Denn Israelis sind ALLE im Staat Israel lebenden Menschen, ungeachtet ihrer Religion. Ist es also ohnehin schon sinnlos, vom Handeln eines Einzelnen verallgemeinernd auf das einer ganzen Gruppe zu schließen, wird es hier noch abstruser. Wenn man das Handeln des 41-Jährigen als typisch für einen Israeli bezeichnet, überträgt man in vielen der Posts das Lügen einer deutsch-jüdischen Person auf alle in Israel lebenden Menschen.
Typische Begriffe
Die Verwendung von Begriffen wie ‚Schuldkult‘ deutet auf allgemein antisemitisch geprägte Ansichten der Verfassenden hin. Der Begriff impliziert einerseits die Überzeugung, es sei an der Zeit, mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit abzuschließen und diese zu vergessen. Andererseits nehmen die Menschen, die ihn verwenden, an, jüdische Menschen würden dies aus egoistischen Motiven heraus verhindern, um das Ansehen des deutschen Volkes gering zu halten und von dessen Schuld an der Shoah zu profitieren.
Fazit zum Antisemitismus in sozialen Medien
Die meisten der exemplarisch angeführten Kommentare können durchaus als charakteristisch für Antisemitismus in sozialen Medien bezeichnet werden. Besonders auffällig ist der zuletzt thematisierte NS-Vergleich, der an Absonderlichkeit wohl alle anderen antisemitischen Äußerungen übertrifft. Dennoch hielt ich es für wichtig auch diesen Kommentar zu erörtern. Denn er verdeutlicht, in welch abstruse Abwege sich das menschliche Hirn verirren kann, wenn es sich auf den Irrglauben an ein Feindbild oder einen Verschwörungsmythos versteift hat. Dass der Fall des deutsch-jüdischen Musikers, der sich unbestreitbar falsch verhalten hat, Antisemitismus in sozialen Medien wie auch allgemein zu fördern imstande sein würde, war zu befürchten. Nun ist es an denjenigen, die schon einmal die löbliche Zivilcourage besessen und sich offen für das vermeintliche Opfer eingesetzt haben, sich erneut offen auszusprechen, diesmal für die tatsächlichen Opfer – die künftig von Antisemitismus Betroffenen, denen nun womöglich noch mehr Misstrauen entgegenschlagen wird.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Judentums in Europa führt mir immer wieder auch die tiefe Verwurzelung von Antisemitismus in der europäischen Kultur vor Augen. Einen bitteren Bezug zur gegenwärtigen Realität erhielt diese z. B., als mir jüngst beim Besuch der mittelalterlichen jüdischen Frauenschul in Worms (s. Artikel über die SchUM-Gemeinden) neben der vor jüdischen Institutionen üblichen Bewachung ein Schild mit Hinweisen zum Verhalten im Amokfall auffiel. Dass diese Maßnahmen notwendig sind, machte mich als Besuchende nicht nur traurig und zugleich wütend, sondern hinterließ auch ein mulmiges Gefühl latenter Unsicherheit während meines Aufeinthalts im Gebäude. Ein Gefühl, das für Jüdinnen und Juden in ihren religiösen Einrichtungen wohl alltäglich ist, wie mir nochmals sehr anschaulich bewusst wurde.
Ebenso zeigte sich die Verwurzelung des Antisemitismus in der europäischen Kultur aber bspw. auch im Verlauf der Corona-Pandemie (ab 2020). Aufgrund des mit dieser einhergehenden Unsicherheitsgefühls wurde Antisemitismus im Rahmen von Protestgeschehen und zunehmender Verbreitung verschwörungsideologischer Denkmuster wieder in wachsendem Maße gesellschaftsfähig. Und auch die Ereignisse im Kontext des gegenwärtig verstärkten Aufflammens des Nahostkonflikts nach dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf den Staat Israel am 7. Oktober 2023 machen die Verwurzelung von Antisemitismus weltweit sowie in der europäischen bzw. deutschen Kultur erneut deutlich.
Doch wie ist es möglich, dass derartige Anschauungen über so viele Jahrhunderte bis in die Gegenwart bestehen blieben? Der Grund liegt in der hochgradigen Anpass- und Wandelbarkeit sowie Anschlussfähigkeit antisemitischer Vorstellungen. Hierdurch konnte dieses stets verzerrt negative Bild vom Juden wiederholt auf neue Rahmenbedingungen zugeschnitten aktualisiert werden, wie der Blick auf den Verlauf der Geschichte zeigt.
Vorläufer des Antisemitismus in der europäischen Kultur des Mittelalters
Seine Ursprünge hat der Antisemitismus bereits in der europäischen Kultur des Mittelalters. Allerdings ist er, wie ich später zeigen werde, eine deutliche Erweiterung seiner Vorläufer: dem auf das Religiöse fokussierenden Antijudaismus sowie der sozial und politisch begründeten Judenfeindlichkeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Religiös begründeter christlicher Antijudaismus
Der theologische Antijudaismus in Mittelalter und Früher Neuzeit richtete sich kollektiv gegen die gesamte Judenheit. Diese sah man unter Berufung auf das biblische Neue Testament aufgrund ihrer Weigerung, Jesu Messianität anzuerkennen, als verstockt an. Davon ausgehend entstanden antijüdische Stereotype und man erhob bspw. Vorwürfe der Teufelsbesessenheit oder des Christusmordes (oder in Weiterentwicklung des Letzteren auch des Ritualmordes) gegen Jüdinnen und Juden.
Sozial und politisch motivierte Judenfeindlichkeit
Ebenso herrschte im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen christlichen Europa überwiegend eine Benachteiligung jüdischer Menschen im politischen sowie wirtschaftlichen und damit auch sozialen Bereich. Denn Berufsbeschränkungen drängten sie ökonomisch in Geldgewerbe und Kleinhandel ab und zunehmende Ghettoisierung grenzte sie gesellschaftlich zusätzlich aus. Dies wiederum steigerte bereits bestehende Vorurteile. Hinzu kamen Neid und Misstrauen gegenüber bei Herrschenden in hoher Gunst stehende, meist für Hoffinanzen zuständige und recht einflussreiche sogenannte Hofjuden. Bei diesen handelte es sich allerdings um seltene Einzelfälle, die aus der Mehrheit ihrer überwiegend unterdrückt lebenden Glaubensgenossinnen und -genossen hervorstachen.
Antisemitismus in der europäischen Kultur der Neuzeit am Beispiel von Deutschland
Zwar war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offiziell in vielen Ländern Europas die Emanzipation der jüdischen Minderheit durchgesetzt worden. So geschah dies 1871 auch in Deutschland (das im Folgenden exemplarisch betrachtet wird). Jedoch nahm dennoch mit Wachsen nationalistischer Bestrebungen innerhalb der deutschen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in dieser auch die Judenfeindlichkeit erneut zu. Und letztere zeigte sich nun in bis hierhin ungekannter Ausprägung.
Rassisch und sozialpolitisch begründeter Antisemitismus bei Wilhelm Marr
Der Journalist Wilhelm Marr gilt als Schöpfer des Begriffs Antisemit. Seine Agitation gegen das jüdische Volk enthielt keinerlei theologische Bezüge. Stattdessen setzte sie dessen angebliche rassisch bedingte Fremdartigkeit gegenüber den europäischen Völkern voraus:
Die welt- und kulturgeschichtlichen Ereignisse haben das Judentum in das Abendland hereingeschleudert. Dasselbe fand ein ihm fremdartiges Element vor und war selbst diesem Element fremdartig.
Marr, 1879.
Daraus zog Marr den Schluss, eine Integration von Jüdinnen und Juden in die deutsche Gesellschaft sei vollkommen unmöglich. Darüber hinaus sah er Jüdinnen und Juden als verantwortlich für alle unangenehmen Auswirkungen der damals stattfindenden Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Dies führte zu vermehrtem Ruf nach Rechtbeschränkungen, Vertreibung oder gar Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie zur Entstehung antisemitischer Parteien und Verbände.
Rassisch motivierter Antisemitismus bei Adolf Stoecker
Auch der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker argumentierte wie Marr auf Basis der sogenannten Rasse. Mitglieder des jüdischen Volkes seien allzu verschieden von denen anderer Völker, um sich jemals in eines der letzteren integrieren zu können oder wollen:
Die Juden sind und bleiben ein Volk im Volke, ein Staat im Staate, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse. Alle Einwanderer gehen zuletzt in dem Volke auf, unter welchem sie wohnen, die Juden nicht. Dem germanischen Wesen setzen sie ihr ungebrochenes Semitentum, dem Christentum ihren starren Gesetzeskultus oder ihre Christusfeindschaft entgegen.
Stoecker, 1880.
Seiner Auffassung nach schreckten jüdische Menschen nicht einmal davor zurück, ihre finanziellen Mittel (deren Vorhandensein er stillschweigend voraussetzte) auszunutzen, um den deutschen Staat zugrunde zu richten.
Nationalistisch-rassistischer Antisemitismus bei Heinrich von Treitschke
Zunehmende Verbreitung und Unterstützung nun auch im deutschen Bildungsbürgertum fand der Antisemitismus durch das Wirken des Historikers Heinrich von Treitschke:
[…] so erscheint die laute Agitation […] als eine […] natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat. […] Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, […] ertönt es heute […]: „die Juden sind unser Unglück!“
Treitschke, 1881.
Treitschkes antijüdische Thesen gründeten sich auf die vorgeblich historische Argumentation, Jüdinnen und Juden hätten aufgrund ihres Judentums Christinnen und Christen stets gehasst. Deshalb könnten sie sich nicht in eine christliche Gesellschaft integrieren und stellten somit für die deutsche Nation eine Gefahr dar. Er zog allerdings noch die Möglichkeit in Betracht, bei vollkommener Assimilation unter Aufgabe des Judentums sei unter Umständen eine Integration in die christlich-deutsche Gesellschaft zu erreichen.
Rassenantisemitismus bei Eugen Dühring
Die rassenantisemitischen Schriften des Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring schließlich gelten jedoch mit Recht als klare Vorläufer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Er sah das jüdische als naturgegeben niederes Volk im Gegensatz zu den höherstehenden sogenannten Kulturvölkern und schloss daraus:
Eine Judenfrage würde […] auch existieren, wenn alle Juden ihrer Religion des Rücken gekehrt und zu einer der bei uns vorherrschenden Kirchen übergetreten wären. […] Grade die getauften Juden sind diejenigen, die ohne Hindernisse am weitesten in alle Kanäle der Gesellschaft und des politischen Gemeinlebens eindringen.
Dühring, 1881.
Somit hatte Dührings Antisemitismus endgültig jeglichen Bezug zur Religion verloren. Kein Jude, keine Jüdin hatte in seiner Auffassung noch eine Möglichkeit, sich in die sie umgebende nichtjüdische Gesellschaft zu integrieren. Denn da Dühring das Judentum ausschließlich als Rasse, nicht mehr als Religion definierte, konnte ein Übertritt zu einer anderen Religion an der Rasse Judentum in seiner Sicht nichts ändern.
NS-Deutschland: Höhepunkt des rassistischen Antisemitismus in Europa
Im Deutschland der NS-Zeit erreichte der rassistische Anitsemitismus sein größtes Ausmaß. Er bildete sowohl ideologisch als auch praktisch den Kern der NS-Innen- sowie Außenpolitik, auf den alles staatliche Handeln ausgerichtet war. Antisemitische Stereotypen waren und wurden weit verbreitet.
Ab 1933 kam es zu staatlich angeordneten Vertreibungen von Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Berufsverboten. Erklärtes Ziel war die Entfernung jeglicher jüdischer Spuren aus Kultur und Politik. Schließlich mündete der rassistische Antisemitismus des NS-Staats (s. Artikel über die Reichspogromnacht) ab 1939 im Holocaust: der systematisch betriebenen physischen Vernichtung jüdischer Menschen.
Antisemitismus in der europäischen Kultur der Gegenwart
Mit dem Ende der NS-Herrschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand der Antisemitismus weder in Deutschland noch im restlichen Europa gänzlich. Bis heute tritt er in variierender Intensität und diversen Erscheinungsformen immer wieder zu Tage – mal unverhohlen und deutlich erkennbar, mal versteckter und unauffälliger.
Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus in der europäischen Kultur
Im 21. Jahrhundert zeigt sich Antisemitismus in der europäischen Kultur in unterschiedlichen Ausprägungen.
Religiös
Das christlich-religiöse Gedankengut des Antijudaismus ist auch im späteren Antisemitismus enthalten geblieben und hat diesen als Ursprung beeinflusst, weshalb sich bspw. die uralten antisemitischen Vorwürfe des Christus- oder Ritualmordes in aktualisierten Formen auch heute noch finden.
Sozial
Die aus dem Mittelalter stammenden, ökonomisch motivierten antijüdischen Stereotypen vom betrügerischen, im Verborgenen entscheidenden Einfluss besitzenden Juden haben ebenfalls teilweise bis in die Gegenwart Bestand und werden lediglich an aktuelle Bedingungen angepasst.
Politisch
Das zeigt sich in der Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, der Unterstellung, dass die jüdische Minderheit insgeheim über große Macht verfüge, die sie mit dem Ziel der Weltherrschaft zum Schaden der Mehrheitsgesellschaft ausnutze, indem sie z. B. Wirtschaftskrisen oder Kriege herbeiführe.
Rassistisch
Jüdinnen und Juden werden als Mitglieder einer minderwertigen, niederen Rasse bezeichnet, mit der sich die sog. höheren Rassen in existenziellem Kampf befänden; zentral ist die Behauptung, jüdische Menschen seien an äußeren Merkmalen wie einer Hakennase erkennbar; die Zugehörigkeit einer Person zum Judentum ist in dieser Ideologie ausschließlich angeboren und somit lebenslang unveränderlich.
Sekundär
Erinnerung an den Holocaust und die Verfolgung jüdischer Menschen durch den NS-Staat wird ausgelegt als jüdischerseits betriebene, gegen Deutsche gerichtete Demütigung und Diffamierung, die zum Ziel habe, eigene Vorteile zu erlangen oder die israelische Nahostpolitik zu rechtfertigen. Dabei kommt es zur Täter-Opfer-Umkehr und vielfach auch zu Holocaust-Verharmlosung oder -Leugnung.
Antizionistisch/ israelbezogen
Diffamierend und delegitimierend wird dem (als jüdisches Kollektiv verstandenen) Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen, wobei antisemitische Bilder, Narrative und Symbole genutzt werden, die gegenwärtige israelische mit der NS-Politik verglichen wird und/oder in unangemessener Verallgemeinerung die Zionisten oder die Juden alle als verantwortlich für das Agieren des Staates Israel betrachtet werden.
Unbedacht/ unbeabsichtigt
Aufgrund ihrer allzu tiefen Verwurzelung in der europäischen Kultur werden im (z. T. auch öffentlichen) Diskurs unbemerkt und unabsichtlich antisemitische Stereotypen verwendet; in gut gemeinter Absicht wird verallgemeinernd allen jüdischen Menschen eine bestimmte positive Eigenschaft/Fähigkeit unterstellt, ohne zu erkennen, dass auch dies sie ausgrenzt.
Erscheinungsformen des Antisemitismus im 21. Jahrhundert
Die diversen Erscheinungsformen überlagern und mischen sich in der Realität häufig und können deshalb mitunter nicht klar differenziert werden.
Definitionsversuche
Wie lässt sich also nun Antisemitismus definieren? Was ist Antisemitismus? Als erster Ausgangspunkt für eine Begriffsbestimmung eignet sich sicherlich zunächst die 2016 formulierte Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA):
Antisemitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward Jews. Rhetorical and physical manifestations of antisemitism are directed toward Jewish or non-Jewish individuals and/or their property, toward Jewish community institutions and religious facilities. [Übersetzung: Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.]
IHRA, 2016.
Diese Definition findet so in einer Vielzahl von Mitgliedsstaaten der EU Anwendung. Einen weiteren Aspekt bezieht die folgende durch die deutsche Bundesregierung aufgenommene Ergänzung ein:
Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.
Auswärtiges Amt, 2017.
Jedoch bleibt die IHRA-Definition auch mit dieser Ergänzung fokussiert auf Religiosität als zentrales Merkmal der Ziele von Antisemitismus. Aus diesem Grund betonte der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus (UEA), dass jüdisch nicht zwingend gleichzusetzen sei mit religiös. Ziel von Antisemitismus könnten auch nichtreligiöse jüdische Personen und/oder Institutionen werden.
Eine weitere Definition von Antisemitismus enthält u. a. die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) aus dem Jahr 2021:
Antisemitism is discrimination, prejudice, hostility or violence against Jews as Jews (or Jewish institutions as Jewish). [Übersetzung: Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).]
JDA, 2021.
Die an der Formulierung beteiligten Forschenden und Intellektuellen heben an dieser Begriffsbestimmung verglichen mit der der IHRA die größere Subtilität, Eindeutigkeit und Stringenz hervor.
Zusammenfassung: Antisemitismus ist…
[…] eine feindselige Positionierung gegenüber den als homogene Gruppe imaginierten Jüdinnen und Juden[.]
Bundesamt für Verfassungsschutz, 2022.
Dabei wird der
[…] einzelne Jude […] nicht als Individuum, sondern als Angehöriger eines konstruierten Kollektivs mit verbindender Agenda wahrgenommen.
Bundesministerium des Innern, 2012.
Somit bedeutet Antisemitismus jeglische Art vonFeindseligkeit, Ressentiments und Verhaftetsein in Klischeevorstellungen gegenüber jüdischen Menschen, schlicht:
Feinschaft gegen Juden als Juden[.]
Bundesministerium des Innern, 2012.
Fazit zum Antisemitismus in der europäischen Kultur
Das Thema Antisemitismus hat im Verlauf der europäischen Geschichte immer wieder von Neuem an Aktualität gewonnen und in variierenden Formen eine Rolle gespielt. Und es hat auch bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Nicht zuletzt im Kontext der Corona-Pandemie sowie des jüngst nach dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf den Staat Israel zunehmend eskalierenden Nahostkonflikts zeigte und zeigt sich, dass Antisemitismus ein fortbestehendes Problem zwar einerseits weltweit und auch allgemein der europäischen, aber ebenso explizit der deutschen Gesellschaft ist.
Umso wichtiger ist es, gegen diesen stets und in jedem Fall die Stimme zu erheben und einzutreten – ganz gleich, von wem und welcher Seite er kommt. Denn wenn die Kontinuität des Antisemitismus in der europäischen Gesellschaft eines verdeutlicht, dann ist dies, dass er nicht ignoriert werden darf, da er ganz offensichtlich nicht von selbst verschwindet. Hierfür bedarf es einer couragierten und geschichtsbewussten Gesellschaft, in der jeder einzelne MENSCH bereit ist, selbstkritisch einen Beitrag zu leisten für eine Welt, in der jeder gleichwertig und gleichberechtigt MENSCH sein kann.
Wilhelm Marr: Der Sieg des Judentums über das Germanentum. Bern 1897.
Adolf Stoecker: Das moderne Judentum in Deutschland, besonders in Berlin, 1880. Zit. n. S. M. Dubnow: Neueste Geschichte des jüdischen Volkes. Jüd. Verlag, Berlin.
Heinrich von Treitschke: Ein Wort über unser Judentum. Berlin 1881.
Eugen Dühring: Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage. 1881.
Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Berlin 2012, S. 10.