In meinem Artikel vom 25.07.2023 ging es um einen antisemitischen Verweis auf die Figur des Shylock aus Shakespeares Stück ‚Der Kaufmann von Venedig‘ in einem Film der ‚Tatort‘-Reihe aus dem Jahr 2023. Der jüdische Gelverleiher erfährt hier aber keinesfalls zum ersten Mal eine dem jüdischen Volk gegenüber diffamierende Interpretation.
Shylock bei Shakespeare
Nun könnte man annehmen, dies sei nicht erstaunlich. Shakespeare hat die Figur schließlich als jüdischen gewerbsmäßigen Geldverleiher angelegt, der sich niederträchtiger Geschäftspraktiken bedient. Und auch dem Dichter selbst wurde hierfür mitunter bereits Antisemitismus vorgeworfen. Aber diese Deutung Shylocks ließe die Figur des Antonio, seines christlichen Gegenspielers, außer Acht. Dieser hasst Shylock nämlich ausschließlich aufgrund von dessen Geschäftspraktiken, aber keinesfalls aus antisemitischen Motiven. Somit ist im Stück selbst zunächst nicht zwingend eine antisemitische Interpretation Shylocks vorgezeichnet.
Deutungsvielfalt
In der Literaturwissenschaft ist man sich jedoch durchaus einig hinsichtlich seiner insgesamt negativen Charakterisierung. Er ist gezeichnet von Geiz, Habgier und Hartherzigkeit sowie gegenüber Antonio auch Rachsucht, Hass und unehrenhaft erscheinendem Handeln. Allerdings wird hinsichtlich der letztgenannten Punkte allgemein eingeräumt, dass Antonio ihn zuvor mehrfach zutiefst beleidigt. Darauf ermöglichte die Rechtslage in der Handlungsepoche des Stücks einem Juden keine ehrenhaften Reaktionen. Somit bleibt in der Forschung die Frage bis heute immer wieder kontrovers diskutiert, wofür Shylock in seinem erbitterten Hass steht. Ist es der
Hass […] des Angehörigen einer verfolgten und gequälten Rasse den Peinigern, der eines Pfandleihers dem Geschäftsrivalen gegenüber, oder Ausdruck einer diabolischen Bosheit?
Pfister, S. 407.
Shylock als Heimtückischer Wucherer
Die Darstellung Shylocks auf den Bühnen fiel entsprechend ebenso unterschiedlich aus. Zunächst wurde er als
arglistige[r] oder schmierige[r] Schacherjude
Neis, S. 68.
präsentiert. Darunter mischte sich einerseits eine Facette von Komik. Zugleich war die antisemitische Interpretation stets von Bedeutung, die im Dritten Reich schließlich ihre stärkste Ausprägung erreichte.
Shylock als Symbol unterdrückten Judentums
Man interpretierte ihn aber bereits im 19. Jahrhundert auch als Gequälten und zu Unrecht Verfolgten, der dies lange Zeit ohne Auflehnung erträgt. In dieser Deutung wurde er zur Symbolfigur für das im Verlauf seiner Geschichte immer wieder gepeinigte jüdische Volk. Das führte zu nuancierten Bühnendarstellungen der Figur und ihrer widerstreitenden Emotionen.
Shylock als Sprecher des entrechteten jüdischen Volkes
Shylocks im Stück ausgestoßener Schrei nach Toleranz und in mancher Hinsicht sogar bereits Gleichberechtigung auch für Juden war und ist für das jüdische Volk bis in die Gegenwart immer wieder von zentraler Bedeutung:
Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer, als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Shakespeare, S. 155.
Denn an der Transformationsgeschichte der Figureninterpretation lässt sich zugleich die (Leidens-) Historie des europäischen Judentums vom Beginn der Frühen Neuzeit an nachempfinden. Erst durch die jüdische Emanzipation hatte sich eine gewisse Sensibilität für sozialpsychologische Konsequenzen der Judenverfolgung herausgebildet. Und erst auf dieser Basis konnte nun das unehrenhafte Betragen Shylocks allegorisch als Folge der über Jahrhunderte währenden Repression des jüdischen Volkes gedeutet werden.
Shylock als dämonische Karikatur des mittelalterlichen Judenklischees
In der modernen Literaturwissenschaft wird postuliert, Shylocks Eigenschaften dürften mitnichten ‚typisch jüdisch‘ genannt werden – mit Recht, wie ich finde! Denn charakterliche Eigenschaften sind ja ohnehin grundsätzlich nie als typisch für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu bezeichnen. Das wäre immer eine unzulässige Verallgemeinerung. Hier träfe das aber selbst davon abgesehen nicht zu. Denn Shylocks negative Züge stehen in krassem Gegensatz zu denen der Figuren aus dem Alten Testament. Und die wären ja noch am ehesten als typisch jüdisch zu bezeichnen. So können die negativen Charakterzüge der Figur nur Konsequenzen ihrer Benachteiligung und der Verachtung durch ihre christliche Umwelt sein. Shylock ist also
ein Mythos, kein lebender Mensch und noch weniger ein typischer Vertreter seines Volkes
Neis, S. 70.
Er steht damit allenfalls (auch) für das (Negative!), das man seitens der christlichen Mehrheitsbevölkerung im mittelalterlichen Europa zumeist über die jüdische Minderheit zu glauben gewillt war.
Shylock in seiner anhaltenden Bedeutung
Insgesamt bleibt Shylocks Rolle schließlich bis heute ambivalent. Sein Flehen um Toleranz nach jahrelanger Demütigung steht in schroffem Kontrast zu seinem inhumanen Rachegelüst gegenüber dem Gegner. Und ebenso zweigeteilt ist die Geschichte seiner Interpretation. Einerseits wird er immer wieder als rechtmäßig zur Verantwortung gezogener, Andersgläubige verabscheuender, hochmütiger jüdischer Halsabschneider verurteilt. Andererseits erfährt er aber auch Nachsicht als über Gebühr unter Hass und Unterdrückung seines Volkes Leidender.
Anlass zu Kontroversen
Auf jeden Fall bleibt die Figur kontrovers interpretiert und angeführt. Und ihre bis in die Gegenwart wiederholt auftretenden, das jüdische Volk diffamierenden Erwähnungen machen deutlich, wie aktuell auch die Diskussion über sie ist. Solche Anspielungen auf Shylock finden aber meist nicht in den fachlichen Grenzen der Literaturwissenschaft, sondern auf unterschiedlichsten Ebenen des gesamtgesellschaftlichen Diskurses statt – z. B. zuletzt im ‚Tatort – MagicMom‘. Deshalb ist es unerlässlich, auch die Debatte über die fachlichen Grenzen hinaus in die Gesellschaft hinein auszuweiten. Nur so kann auch dort die Auseinandersetzung mit und Wachsamkeit bezüglich der Problematik angeregt und gefördert werden. Hierzu hoffe ich, mit diesem Artikel einen Beitrag zu leisten.
Quellen & weiterführende Informationen
- Antisemitischer Abschluss im durchschnittlichen ‚Tatort‘
- Horch, Hans Otto: Shylock. In: Neues Lexikon des Judentums (1998), S. 761.
- Neis, Edgar: Erläuterungen zu William Shakespeare. Der Kaufmann von Venedig. 2. Aufl. Hollfeld 1991.
- Pfister, Manfred: Die heiteren Komödien. In: Shakespeare-Handbuch. Hrsg. v. Ina Shabert. 5., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 2009, S. 379–433.
- Shakespeare, William: Der Kaufmann von Venedig. In: William Shakespeare. Sämtliche Werke. Übers. v. August Wilhelm Schlegel [u. a.]. Lizenzausgabe. Frankfurt a. M. 2007, S. 141–168.
- de.wikipedia.org/wiki/Der_Kaufmann_von_Venedig